Mit Schafen reden hilf nicht

Ich habe einen Plan: raus aus dem beschleunigten Alltag, rein in die Weite. Alleine wandern in Schottland mit dem Rucksack und einem kleinen Hausrat – mit Aussicht auf Sonne, Regen, Schafe und vielleicht ein paar Einsichten. Ein Versuch, langsamer zu werden – Schnelligkeit ist mit diesem Rucksack sowieso keine Option ;-)

Zwischen Highlands und Haltestellen, Nessi und Notizen sammle ich Eindrücke, Irrtümer und ganz gelegentlich Klarheit.

31. Mai

Der Flug läuft glatt – von Wien über Amsterdam nach Glasgow, alles wie am Schnürchen. Auf dem ersten Flug sitze ich neben einem sympathischen Kerl in meinem Alter. Schottland-Fan, Alleinwanderer, Gesprächspartner. Wir unterhalten uns über das Unterwegssein, das Alleinsein, das Sich-selbst-Begegnen – also über alles, was mir im Moment noch etwas Kummer macht. Anderthalb Stunden Austausch, die besser tun als jedes Wander-YouTube-Video. Er macht mir Mut, ohne es zu wissen.

In Glasgow läuft alles reibungslos weiter: Hotel okay, alles da. Und doch fühle ich mich körperlich mau. Die Magen-Darm-Geschichte der letzten Tage hat Spuren hinterlassen – mein Bauch zwickt, die Kräfte sind überschaubar, und mein Rucksack fühlt sich an wie ein Fass Bier auf dem Rücken, ein großes Fass. Im Spiegel sehe ich eine müde, nicht mehr ganz junge Frau und frage mich: Wie sollst du so durch die Highlands kommen? Aber zurück ist keine Option. Nicht jetzt.

Ein Lichtblick

Das Gepäckdepot an der Buchanan Bus Station soll eigentlich 70 Pfund kosten – 5 Pfund pro Tag für 14 Tage. Der Mitarbeiter, ein sehr netter Schotte, bietet mir einen Spezialpreis von 30 an. Auch nicht wenig, aber immerhin. Denn ja – alles ist teuer hier. Und trotzdem: Ich bin aufgeregt. Heute Nachmittag um 15 Uhr geht’s mit dem Zug nach Inverness. Und dort wartet eine Jugendherberge. Mit Sechsbettzimmer. Mit fast 49 Jahren. Aber was soll’s? Ich will das so. Wird passen! Punkt.

Glasgow: Ein kurzer Zwischenstopp

Bevor es weiter in den Norden geht, besorge ich mir in Glasgow noch das Nötigste – ein paar Kleinigkeiten, die man erst vermisst, wenn sie fehlen. Danach ein stilles Tennent’s vor dem Pub. Die Sonne scheint, die Stadt genießt den Sommer, aber mein Bauch hat andere Pläne. Bier und ich – heute kein Dreamteam. Ein

kleiner Spaziergang zur Kathedrale bringt etwas Ruhe in den Tag, bevor es zur Queen Street Station geht. Von dort aus: 3,5 Stunden Zugfahrt Richtung Inverness. Und ich freue mich. Denn je weiter der Zug in die Highlands rollt, desto weiter wird auch mein Herz.

Zugfahrt in den Norden: Mit Buch, Bauch und Ballast

Die Fahrt nach Inverness ist fast unverschämt schön. Schäfchenwolken, sattes Grün, gelber Ginster, postkartenverdächtige Hügel. Ich kenne Schottland auch anders – grau, wild, mit Wetter, das man eigentlich erwartet. Heute aber: fast zu warm. Meine Wanderschuhe fühlen sich wie kleine Öfen an.

Am Flughafen habe ich mir spontan ein Buch gekauft: *The Subtle Art of Not Giving a F*ck\* von Mark Manson. Keine Wohlfühl-Lektüre, sondern eine elegante Kopfnuss. Manson schreibt: Wir kümmern uns um zu viel Mist. Stattdessen sollen wir lernen, ganz bewusst auszuwählen, was uns wirklich wichtig ist – und den Rest mit Würde ignorieren. Oder wie er es auf den Punkt bringt:

The desire for a more positive experience is itself a negative experience.”

Während draußen die Landschaft vorbeizieht, sitze ich da – mit einem halben Hausstand auf dem Rücken (15 Kilo, gefühlt doppelt so viel), meinen immer noch anwesenden Extrapfunden auf der Hüfte und dem Vorsatz, auf dieser Reise vielleicht ein bisschen Ballast loszuwerden – im Rucksack, am Körper, sowie im Kopf. Ich werde wandern. Ich werde fluchen. Ich werde irgendwo ankommen. Und dabei, wenn alles gut läuft, lerne ich ein bisschen mehr darüber, wie man sich stilvoll einfach mal nichts scheißt.

Drei Frauen setzen sich neben mich – 8, 35, 71. Drei Generationen Schottinnen mit rotblonden Haaren, als hätte man sie direkt aus einem Roman über die Highlands entnommen. Das Mädchen – Sky – sieht aus wie ihre Urgroßmutter, und auch ein bisschen wie eine Elfe, die in einer Blumenwiese wohnt. Still, aber lebendig. Ich erfahre, dass sie ohne Oberschenkelgelenk geboren wurde und mehrere Operationen hatte. Man sieht ihr nichts an. Sie sitzt da, aufmerksam, mit diesem besonderen Funkeln, das Kinder haben, die mehr wissen, als sie sagen. Ein rosa Handy mit Glitzer an ihrer Hand festgewachsen. Die Mutter – 35, energiegeladen, ein bisschen verrückt im besten Sinne. Sie liebt ihre Tochter, das spürt man in jeder Geste. Redet schnell, springt von Thema zu Thema, lacht laut, liebt Tiere, Wildnis, Natur. So eine, die wahrscheinlich mitten im Sturm mit einem Fuchs spricht und ihm Tee anbietet. Ich verstehe nicht alles – der schottische Akzent ist schneller als mein Ohr –, aber genug, um zu wissen: Diese Frau brennt. Fürs Leben. Für ihre Kleine.

"Google Granny"

"Google Granny"

Und dann die Großmutter. 71. Theaterschreiberin, Uni-Dozentin, frühe Internettante – sie wird innerhalb der Familie "Google Granny" genannt, weil sie schon Texte fürs Netz verfasst hat, als der Rest von uns noch dachte, das Internet sei ein kurzfristiger Trend. Ruhig, klug, humorvoll. Als ihre Tochter schwer erkrankt, kümmert sie sich um sie, später auch um das Enkelkind. Irgendwann kommt das Gespräch auf Geschichten – auf ein Buch, das sie geschrieben hat: *Mythical Flower Stories*. Geschichten, die sie früher ihrer Tochter erzählt hat. Über Blumen, ihre Ursprünge, ihre Mythen. Kein Buch dabei, nur Worte.

Aber ich sehe es vor mir – Veilchen, Heidekraut, Mohn, jedes mit einem kleinen Geheimnis. Vielleicht ist das das Schönste daran: dass es ursprünglich mündlich ist. Wie früher. Während draußen die Highlands vorbeiziehen, dramatisch und sanft zugleich, bin ich für eine Stunde mittendrin – nicht nur im Zug, sondern in meiner Geschichte, die gerade erst begonnen hat. Und ich bin dankbar.

„Man kann nur durch das Leben reisen, wenn man leicht ist.“ — Sylvain Tesson

Inverness

Das Hostel: schlicht, freundlich, alles da, was man braucht. Eine Küche zur Selbstbedienung. Zur Belohnung: ein Bier und eine heiße Suppe in der Castle Tavern – bodenständig, knarzig, gemütlich. Alte Holzstühle, viel Geschichte, noch mehr Geruch nach Ale. Jetzt bin ich müde. Sehr müde. Die letzte Nacht ist eher kurz. Ich verabschiede mich mit einer Dusche und der stillen Hoffnung, dass das Bett hält, was es verspricht.

1. Mai – Spaziergang zwischen alten Bäumen

Heute spaziere ich über die Ness Islands – kleine, grüne Inseln mitten im Fluss, verbunden durch schmale Hängebrücken. Alte, riesige Bäume stehen dort, still und beeindruckend. Die Menschen gehen mit ihren Hunden spazieren. Man grüßt sich, manchmal bleibt man für ein kurzes Gespräch stehen. Es ist ruhig hier. Freundlich. Entschleunigt. Die Kirschbäume verlieren ihre Blüten – sie segeln in Zeitlupe zu Boden, wie rosa Schnee.

Anschließend besuche ich den botanischen Garten. Er ist nicht groß, aber liebevoll angelegt. In den Glashäusern kann man zwischen den Pflanzen sitzen – das ist besonders. Draußen gibt es ein kleines Café. Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommt, ohne dass etwas „passiert“.

Zweisamkeit

Im Café sehe ich zwei ältere Menschen sitzen. Beide mit Zeitung, beide still für sich. Und doch: offensichtlich zusammen. Keine Gespräche, kein Handy, kein Spektakel – nur ein ruhiges Nebeneinander unter Palmen. Ich ertappe mich bei einem Gedanken, der fast zärtlich ist: Ich beneide sie. Nicht um die Zeitung. Nicht um den Ort. Sondern um dieses Selbstverständliche – zu zweit da sein, ohne reden zu müssen. Einfach sitzen. Lesen. Atmen. Jeder für sich – und trotzdem verbunden.

Outdoor-Therapie und ein Tropfen Hoffnung

Nach dem botanischen Garten gönne ich mir eine Stunde Rückzug – kurz ausklinken, kurz abschalten. Ich döse weg, gefühlt nur für Sekunden, aber mein Körper nimmt, was er kriegen kann. Irgendwann rapple ich mich doch noch auf und gehe zurück in die Stadt.

Inverness… na ja. Irgendwie habe ich mir mehr versprochen. Vielleicht zu viel. Vielleicht bin ich zu müde, vielleicht auch einfach schon woanders mit dem Kopf. Aus dieser leisen Orientierungslosigkeit heraus beginne ich eine therapeutische Tour durch diverse Outdoor-Geschäfte. Wanderrucksäcke, Funktionsjacken, Titanlöffel – das Betrachten von Ausrüstung wird zur besten Medizin gegen meine bleierne Fatigue. Vielleicht springt irgendwo ein Funke Energie über. Ich bin nicht sicher, ob ich nach etwas suche oder mich nur in den Dingen verliere. Ich könnte ewig durch solche Läden streifen. Ich liebe sie. Sie sprechen von Abenteuern, von Aufbrüchen, von einer Welt, in der man wenig braucht und doch alles hat. Diesmal bleibe ich stark. Stattdessen entscheide ich mich für eine Mini-Flasche Whisky – gekauft in einem Spezialgeschäft, sorgsam ausgewählt. Für den besonderen Moment auf dem Weg. Möge er kommen.

Am Abend lande ich wieder in der Castle Tavern – einem dieser Pubs, in denen das Holz knarzt, das Bier stimmt und jede Ecke eine Geschichte erzählt. Angeblich wird hier 2008 eine lebensgroße Johnnie-Walker-Statue aus dem Biergarten entführt – der Körper taucht auf einem Parkplatz auf, der Kopf in irgendeinem Vorgarten. Irgendwie passend: Auch ich fühle mich derzeit ein wenig kopflos. Und mein Körper würde sich auf einem Parkplatz sofort schlafen legen. Zum Abschluss gibt’s Haggis und Bier – rustikal, warm, seltsam tröstlich. Und um 17:30? Schon wieder im Bett.

2. Mai – Von Bettflucht und Burgruinen

Nach über zwölf Stunden Schlaf krieche ich eher wie ein rückenlahmes Reptil aus dem Bett als wie ein Mensch mit Reiseplänen. Am Busbahnhof läuft alles reibungslos – um 9:05 bringt mich die Linie 919 nach Drumnadrochit. Der Ort ist winzig. Check-in ist aber erst um 16 Uhr – also Plan B: Sightseeing.

Urquhart Castle

Das Wetter ist grau, die Stimmung auch – zumindest fotografisch. Trüb, flach, null Dramatik. Die zwei Kilometer dorthin ziehe ich trotzdem durch – immerhin: Bewegung. Der Eintritt? Satte 16 Pfund. Für eine Ruine am Loch Ness. Ich zahle trotzdem – Touristenschicksal. Immerhin versuche ich, den Preis auszukosten, indem ich jede halbwegs stabile Mauer ehrfürchtig umrunde und innerlich überlege, wie oft sie wohl schon fotografiert wurde. Spoiler: oft.

Zurück im Ort lande ich in einem kleinen Café – ein Ort zum Verschnaufen und Kräfte sammeln. Ich will noch runter zum See, aber mein innerer Akku blinkt bedenklich rot. Vielleicht hilft ein Bier. Vielleicht hilft Hartnäckigkeit. Vielleicht hilft einfach losgehen.

“Everything worthwhile in life is won through surmounting the associated negative experience.” – Mark Manson

Urquhart Bay – Das Licht von Loch Ness

Ein Spaziergang durch die Wälder bei Drumnadrochit, hinunter ans Ufer des Loch Ness, beginnt wie ein Märchen. Am Waldboden breiten sich Teppiche aus violetten Atlantischen Hasenglöckchen aus, dazwischen Bärlauch und zarte Blüten der Großen Sternmiere, die mit ihren weißen Sternen zwischen dem Grün aufleuchten. Und dann, fast wie ein Farbklecks aus einer anderen Welt: gelber Mohn – vermutlich der Walisische Mohn.

Der Wald wirkt verzaubert. Das Licht wechselt im Minutentakt – finster und moosig-grün im einen Moment, dann wieder durchbrochen von Sonnenflecken, die wie kleine Scheinwerfer auf Blüten und Farn fallen. Es ist bereits 17 Uhr, doch hier bleibt es lange hell – als würde der Tag extra verlängert, nur für diesen Moment. Ich gehe weiter, langsam, ohne Ziel, und merke, wie mich die Natur auflädt. Ich weiß, es klingt pathetisch – aber ich werde mit jedem Schritt ruhiger, klarer, kraftvoller. Diese Wälder geben mir genau das, was ich brauche. Und morgen geht’s los. Richtig los. Und ich freue mich wie ein Kind.

3.–8. Mai – Glen Affric Trail: Zwischen Forstweg, Schnupfen und Freiheit

Der Tag beginnt früh. Ich dusche im Hostel in Drumnadrochit, esse Porridge – diese herrlich unkomplizierte Wanderernahrung – und packe alles sorgfältig ein. Der Rucksack sitzt, schwerer als nötig, und los geht’s. Den Einstieg in den Affric Kintail Way finde ich sofort – gut beschildert, angenehm klar. Es geht bergauf, durch einen Wald.

Ich habe mir vorgenommen, es langsam anzugehen und nicht gleich bis Cannich zu laufen. Immerhin sind es fast 27 Kilometer. Aber ich gehe weiter. Und weiter. Und irgendwann sind es nur noch sieben. Warum? Vielleicht, weil der Weg zwar solide, aber nicht wirklich zauberhaft ist. Forststraßen, Viehweiden, Betriebsamkeit. Pferde, Schafe, Kühe – alles da. Aber kein Gefühl von Wildnis. Die Berge in der Ferne leuchten, weit weg, fast ein Versprechen. Und das reicht, um weiterzugehen.

Rückblickend denke ich: Diese erste Etappe kann man sich sparen. Wer nicht jeden Kilometer braucht, startet einfach in Cannich. Vielleicht sogar: sollte.

Unterwegs ordnen sich langsam meine Gedanken. Der innere Lärm wird leiser. Stattdessen: ein ständiger Körpercheck. Die Zehen brennen, die Fußsohlen melden sich, das rechte Knie beschwert sich wie gewohnt. Der Nacken ist nass, der Wind kalt. Pausen im Sitzen? Eher ungemütlich. Ich gehe fast ohne zu rasten. Nicht besonders klug – aber heute ist es eben so. Ich treffe einen anderen Wanderer. Er ist schneller unterwegs, will den Weg in drei Tagen machen. Vielleicht sehen wir uns wieder. Vielleicht auch nicht. Erster Tag: doppelt so weit wie geplant. Keine Glanzleistung, aber auch kein Drama. Einfach ein Einstieg. Ein Schritt nach dem anderen – mit etwas zu viel Gewicht und ein paar ehrlichen Zweifeln im Rucksack. Am Abend finde ich einen Schlafplatz in einer kleinen Hütte. Der Wanderer aus Birmingham, den ich unterwegs getroffen habe, bietet mir den Platz seines erkrankten Freundes an. Windgeschützt, warm, kostenlos. Ein Geschenk.

Ein alter Bus als Pub

Cannich selbst ist überschaubar, aber versorgt. Es gibt einen Spar – mit Bar – und gleich daneben steht ein Doppeldeckerbus, der kurzerhand zum Pub umfunktioniert wurde. Bier, Burger, Bus. Ich lande dort, komme ins Gespräch, stoße an mit Leuten, die ebenfalls draußen unterwegs sind. Wandernde aus aller Welt – die meisten fitter, jünger, zügiger. Aber herzlich. Ich bin die Genussfraktion. Und das ist okay.

In der Nacht spüre ich Halsweh. Ich rede mir ein, dass es harmlos ist. Ich bin nicht hierhergekommen, um krank zu sein.

Superkleber und

Powertape

Am nächsten Morgen bin ich startbereit – und dann, nach circa 500m, zerlegt sich mein Wanderstock. Die untere Verbindung löst sich. Ich stapfe zurück zum Campingplatz, halb resigniert. Dort helfen mir ein hilfsbereiter Kerl von den Orkneys und eine Holländerin mit Superkleber und Powerband. Wir flicken das Ding irgendwie zusammen. Ohne Stöcke weiter? Keine Option. Ich danke ihnen – Fremde, die für einen Moment Verbündete werden.

Der Weg heute ist wenig spektakulär. Viel Forststraße, wenig Sicht. Ich bin so vertieft in meinen eigenen Trott, dass ich ein paar Mal falsch abbiege. Mein GPS rettet mich. Irgendwann geht gar nichts mehr. Mein Ischias meldet sich. Was bitte kommt noch? Ich laufe zehn Meter, mache Pause. Zehn weitere, dann wieder. Schließlich werfe ich mich auf die Isomatte, dehne mich, atme, fluche leise. Irgendwann helfen nur noch Matcha und Wurst.

Dog Falls - Loch Coire

Die Dog Falls erscheinen wie eine Oase. Es nieselt, dann scheint die Sonne. Ich trinke. Esse. Wildes Wasser.

Von plötzlicher Kraft durchflutet wandere ich noch zum Loch Coire. Es wird Abend. Der Wald hier ist Teil eines der letzten echten wilden Naturschutzgebiete Schottlands.

Es stehen hohe Bäume und alte tote liegen.

Ein letztes Sonnenlicht trifft auf einen Platz bei ein paar Bäumen – ein Zeichen. Schnell das Zelt aufgebaut, bevor es ganz dunkel wird. Ich habe gerade noch genug Wasser für Abendessen und Frühstück. Von hier oben habe ich einen Blick auf Loch Beine a`Mheadhoin. Dann wird’s eisig. Ich friere mir den Rücken ab, das beste was meinem Ischias passieren kann und wecke mich selbst einige Male mit lautem Schnarchen. Die Nase ist verlegt, der Hals tut weh. Immerhin: kein Wind in der Hütte aus Stoff. Man ist manchmal für weniges dankbar.

Am nächsten Morgen: Nebel, der vom Wasser aufsteigt. In solchen Momenten muss man schnell sein, sonst verpasst man die Fotostimmung. Ich breite meine Sachen zum Trocknen aus, trinke die beste heiße Schokolade meines Lebens – Restvorrat aus dem Hotel in Glasgow. Los gehts wieder.

Zwischendurch setze ich mich an einen kleinen Fluss, koche Suppe, gehe hinunter zum Loch Affric, versuche Fotos zu machen. Mal wieder stehen Bäume im Weg. Fotografisch frustrierend, landschaftlich ein Traum. Aber der Weg zieht sich. Wieder Forststraße. Gleichförmigkeit frisst Energie. Der Untergrund ist hart, der Takt mechanisch. Und ich merke: Diese Wege sehen harmlos aus, sind es aber nicht. Sie sind wie Laufbänder in der Natur – gleichmäßig und zermürbend. Mache einen Abstecher zum “River Walk”. Sehr schön dort, wildes Wasser, windstill und heiß. Gegen Abend finde ich einen windgeschützten Platz am Ende von Loch Affric, nahe beim River Affric Wasserfall. Ich baue das Zelt auf, koche mir chinesische Nudelsuppe, trinke einen halben Liter Wasser. Die Nacht ist noch kälter als die erste. Meine Nase läuft – eine Klopapierrolle wird mein nächtlicher bester Freund, nicht weil ich ständig aufs Klo muss, sondern weil meine Nase läuft – Männerschnupfen erster Güte.

Morgens um fünf klappe ich die Zeltwand hoch: Raureif auf der Plane. Ich stapfe mit der Kamera zum Strand. Nebel, Sonne, Einsamkeit – das volle Programm. Ich friere, aber es ist herrlich. Danach noch mal zurück in den Schlafsack, Tropfen ins Gesicht, weil’s von der Zeltwand tropft.

Später packe ich alles zusammen und gehe los – immer den Wind ins Gesicht. Schal, ich liebe dich! Das Tal wird karger, die Landschaft schottischer. Bei der Jugendherberge sehe ich durchs Fenster Leute kochen – und darf nicht rein. Ausgebucht. Das tut weh. Also weiter. Ich will aus dem Wind, brauche Schutz. Ich gebe Gas, überhole drei andere Wanderer, schaffe es vor ihnen zur Schutzhütte.

Campen Bothy - eines der entlegensten Bothies Schottlands

Drinnen: kalt, steinig, nach Kerosin stinkend – aber windstill. Ich koche Suppe, trinke Tee, bin durstig wie ein Kamel. Aber immerhin: Ich habe ein Dach über dem Kopf.

Husten, verquollene Augen, Sonne draußen – ein Lichtblick. Ich packe langsam. Heute nur 12 km. Der Weg ist nicht besonders anstrengend, aber ich bin schwach. Irgendwann erreiche ich eine Wasserscheide – auf der einen Seite fließt der River Affric, auf der anderen Seite ein kleiner Wasserfall. Ich setze mich, koche Suppe (die übergeht, während ich fotografiere), trinke Matcha und esse Karamell. Luxusmoment trotz Schnupfen. Die Landschaft ist unbeschreiblich schön. Berge, Berge, immer wieder kleine Wasserfälle und keine Menschenseele. - nur ich.

Später geht es nur noch bergab. Schafe, Fluss, Tal. Irgendwann – wieder Empfang. Ich rufe Felix an, erreiche um halb sieben den Campingplatz – zu spät zum Einchecken. Alles schon zu. Also weiter zum Tante-Emma-Laden. Dort bekomme ich ein Bier, ein Sandwich – und treffe Pierre, später Martin. Wir ziehen gemeinsam zum anderen Campingplatz. Bier, Dusche, Whisky mit zwei Schotten. Leben! Man erzählt sich Geschichten. Ein Moment, der sich genau richtig anfühlt.

Am nächsten Tag – der 8. Mai – scheint die Sonne. Ich treffe die Entscheidung: Ich fahre zurück nach Inverness. Genug Wind, genug Schnupfen, genug Zeltgefröstel. In mir keine Euphorie, keine Wehmut. Nur tiefe Dankbarkeit für ein heißes Getränk und das Ende des ständigen Platzsuchens. Vielleicht kommt das große Glücksgefühl später, vielleicht auch nicht. Ich weiß nur: Ich bin müde. Und angekommen.

Zurück in der „normalen“ Welt

Am Abend sitze ich in einer Pizzeria in Inverness. Der Raum ist warm, voll, laut. Ich schwitze. Nicht vor Hitze – vor Reiz. Meine Hände beginnen zu glühen. Der Wechsel von draußen nach drinnen trifft mich wie eine Wand. Nach Tagen im Wind, mit bloßen Händen, hat mein Körper gelernt, sich selbst zu wärmen. Jetzt, im geheizten Raum, weiß er nicht, wohin mit all der gespeicherten Energie. Die Haut brennt. Ich rieche Parfum, Deos, Gewürze, warme Menschen. Und mich selbst. Und es ist – zu viel. Ich bin überfordert von der Lautstärke, den Gerüchen, der Enge. Ich sitze da und merke: Ich passe nicht mehr ganz hierher. Noch nicht. Vielleicht auch nie wieder so wie vorher. Ich bin draußen gewesen. Ich habe in der Wildnis geschlafen, in der Stille gesessen, mit Wanderern aus aller Welt Tee und Whisky getrunken. Ich habe mich durch Wind und Regen geflucht, Suppe gekocht auf nassem Gras, mit Schnupfen fotografiert – und dabei so etwas wie Heimat gefunden. Nicht im Ort. Im Zustand. Und jetzt bin ich zurück in der Welt, in der Dinge riechen, blinken, sprechen. Und ich weiß: Ich will wieder raus. Schon jetzt. Obwohl mein Trip gerade erst vorbei ist. Ich denke schon an den nächsten. Es ist wie eine Sucht. Aber eine gute. Sie macht ruhig. Sie macht stark. Ich möchte in dieser Blase bleiben, noch ein bisschen. Noch einen Tag. Noch einen Tee. Noch einen Schritt.

„Manchmal ist das größte Abenteuer nicht das, was du siehst, sondern dass du trotzdem weitergehst.“

Affric Kintail Way

  • Start–Ende: Von Drumnadrochit am Ostufer von Loch Ness bis Morvich in Kintail im Westen.

  • Länge: Rund 44 Meilen (≈ 71 km)

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Ein Wochenende in der Sächsischen und Böhmischen Schweiz – Fotografische Freude und Freundschaft