Gelber Ginster und Gejammer
…und ich blieb noch ein bisschen in der Blase (siehe “Mit Schafen reden hilft nicht”).
Nach ein wenig Recherche, sticht mir der Moray Coast Trail ins Auge. Nicht zu weit weg von Inverness, Ostküste, einfacher Weg. Perfekt für eine angeschlagene Wanderin mit noch ein wenig verbleibender Zeit und Hunger nach Meeresluft.
9.Mai -Inverness bis Birkhead
Ich starte spät. Richtig spät. Aber immerhin ausgeschlafen – und das mit gutem Gewissen, weil: eigenes Zimmer, eigene Dusche, niemand, der draußen wartet. Ich dusche also ausgiebig heiß, lade hektisch alles auf, was mir später irgendwie das Überleben sichern soll – klappt natürlich nur zur Hälfte. Irgendwas ist immer.
Bus Richtung Forres. Soweit der Plan. Ich sage dem Busfahrer, wo ich aussteigen möchte. Der nickt. Hilft aber nichts, wenn man nicht selbst den Stop-Knopf drückt, was schwer ist, wenn man fremd ist. Also drücke ich irgendwann auf gut Glück, steige aus – und finde mich auf einer Art Schnellstraße wieder. Links Landwirtschaft, rechts Hecken, dazwischen Asphalt und ich. Nächste Bushaltestelle? Keine. Dafür fünf Meilen entlang einer befahrenen Straße ohne Gehweg. Wanderromantik sieht anders aus.
Also Daumen raus. Nichts passiert. SUVs donnern vorbei, als wäre ich unsichtbar. Mercedes, Audi, MG – alle zu beschäftigt oder nicht erpicht darauf eine müffelige Wanderin einzupacken. Sie wissen ja nicht, dass ich frisch geduscht bin. Ich gehe wieder weiter, probier es nochmal. Und dann – wie aus dem Nichts – hält ein ganz normales Auto. Ein vollgepackter Familienwagen mit Kind und Einkauf. Die Mutter klettert nach hinten zum Kind, ich werde vorne reingefaltet, alle lachen – und plötzlich ist alles gut. Sie laden mich zu sich nach Hause ein und fragen, ob ich duschen möchte, was nicht leicht irritiert, aber naja. Sie bringen mich direkt nach Birkhead, zum einzigen Café weit und breit. Ich liebe sie ein bisschen. Dort bestelle ich eine Ham-and-Egg-Roll. Der Strand liegt direkt davor, das Meer glänzt, die Frau hinterm Tresen ist freundlich. Schottland, du kannst was.
Dann geht’s südwärts, endlich auf dem Moray Coast Trail. Gelber Ginster, rauer Sandstein, piktische Tafeln und eine steife Brise – das ist meine Art von Wander-Sightseeing. Ich bleibe alle paar Meter stehen zum Fotografieren.
Infobox: Moray & die Pikten
Moray ist eine historische Region im Nordosten Schottlands – benannt nach dem gleichnamigen Moray Firth, einer großen Meeresbucht. Der Name stammt vermutlich vom gälischen Moireabh – „Land am Meer“. Im Mittelalter war Moray ein eigenständiges Königreich mit mächtigen Clans und wechselvoller Geschichte.
Die Pikten waren ein keltisches Volk, das zwischen dem 3. und 9. Jahrhundert große Teile Nordschottlands bewohnte. Sie hinterließen geheimnisvolle Symbolsteine, widersetzten sich erfolgreich den Römern – und gelten als Mitbegründer des späteren Schottlands. Entlang des Moray Coast Trails begegnet man noch heute ihren Spuren – in Form alter Steine, Ortsnamen und dem Gefühl, dass hier Geschichte unter jedem Felsen liegt.
Die Vögel
Erst ein toter Fasan, dann noch einer, dann – als Krönung – ein toter Rabe in einer Felsnische, die hier „Zwölf Apostel“ heißt. Böse Vorzeichen? Oder einfach nur das Fotografenauge, dass überall hinschauen muss. Auf jeden Fall - ein bisschen viel Tierdrama für einen Tag. Da fällt mir das vor kurzem gelesene Zitat wieder ein: „You will die someday. I know that’s kind of obvious, but I just wanted to remind you.“ (Mark Manson) Und so beschließe ich: Ich gehe weiter und lasse mich nicht weiter vom Weg abbringen. Trotz toter Vögel, trotz schmerzender Sehne am Knöchel, ach ja die hatte ich noch gar nicht erwähnt, oder? Der Tag endet auf einem winzigen Zeltplatz mit Meerblick, einer blau gestrichenen Bierbank und einem lokalen Bier in der Hand. Nicht so schlecht.








10. Mai – Gelber Ginster, Sandstein und Spuren aus der Urzeit
Heute war einer dieser Tage, an denen man nicht viel macht – und gerade deshalb alles spürt. Ich bin vom Campingplatz in Hopeman losgewandert, nur ein kurzes Stück, durch das kleine Küstenstädtchen. Hopeman ist bunt, freundlich und fast zu charmant. Die farbenfrohen Strandhütten reihen sich geordnet und doch kindlich kreativ am Meer entlang.
Doch dieser Ort hat Tiefenschichten – buchstäblich. In der Nähe, im Clashach-Steinbruch, wurden fossile Spuren von therapsiden Reptilien gefunden. Diese „mammalähnlichen Reptilien“ lebten hier vor rund 250 Millionen Jahren – lange bevor Ginster blühte oder Menschen Hütten bemalten. Damals war das hier eine trockene, wüstenähnliche Landschaft. Schottland war dort wo heute die Sahara liegt. Die gut erhaltenen Fußabdrücke und Schleifspuren ihrer Schwänze im Hopeman-Sandstein erzählen noch heute von ihrer Bewegung durch diese fremde Welt. Auf dieser Wanderung hier entlang der ruhigen Ostküste habe ich Zeit solche Details nachzulesen und nachzuspüren. Ich gehe weiter – entlang der Küste, auf schmalen Pfaden zwischen Fels und Gras. Und immer wieder: Gelb. Leuchtend gelb. Es ist Ginsterzeit. Stechginster mit seinen dornigen Zweigen und dem süßlich-kokosartigen Duft steht hier ebenso in voller Blüte wie Besenginster, beide strahlen in der Sonne.
Ich finde eine kleine, geschützte Bucht. Höhlen links und rechts, ein Wiesenfleck, eine Schotterbank, Sand. Das Wasser: eiskalt und glasklar. Ich war bis zu den Knien drin, weiter traue ich mich nicht – meine Erkältung mahnt zur Vernunft. Aber ich bleibe. Vielleicht auch über Nacht. Ich plaudere mit Glenn, einem pensionierten Professor aus London - über Gott und die Welt. Es wird Abend und die paar Menschen am Strand packen ihre Sachen ein. Ich meine aus, bereit für den Sonnenuntergang. Doch es kommt immer alles anders als man denkt. 12 Jugendliche kämpfen sich den Hang herunter und die Party beginnt. Anfangs stört es mich, doch dann sehe ich fasziniert zu wie junge Frauen im nassen Bikini Bier trinken, ohne zu erfrieren, während ich mittlerweile alles anhabe, was ich mithabe. Merino Tankktop, Merinoshirt, Wollpullover, Jacke. Ich gehöre eindeutig nicht mehr zu ihnen. Aber zu Glenn – auch noch nicht. Ich bin irgendwo dazwischen. Zwischen Bikini und Biographie. Nach Sonnenuntergang verkrieche ich in mich in meinem Schlafsack. Ihre Stimmen werden leiser und und steigen die Böschung hinauf. Dann - nur mehr Meeresrauschen.







11. Mai - bis Lossiemouth
Ein Abschnitt wie aus einem botanischen Rausch: Ginster, so weit das Auge reicht – ein ganzes Meer aus Gelb, durchsetzt mit wilden Rosen, Kuckuckslichtnelken und atlantischen Hasenohren. Es geht vorbei an Felsklippen, verwittertem Sandstein, einem alten Leuchtturm – und dann, Richtung Lossiemouth, taucht der neue auf. Gebaut nach einem Schiffsunglück. Der Strand dort ist endlos, glatt, weich. Heute keine Robben, aber viele Hunde mit nassen Pfoten und glückliche Menschen. Die Stimmung war… einfach gut. Ganz schlicht, aber herzwarm. Ich wurde mehrfach nach meinem Weg gefragt, bekam Tipps für Fischsuppe und Eis in Cullen. Ich raste in der Beach Hut in Lossiemouth, trinke Cappuccino und schnorre Strom für meine Powerbank. Ich war schon mehrfach auf der Cafehaus Toilette – Zähneputzen, Wasser nachfüllen, Zuckerpäckchen sichern (man weiß ja nie). Ich müsste das alles nicht so machen – aber es fühlt sich gerade richtig an. Landstreicher deluxe, mit Ginsterduft und Meerblick. Ich lache in mich hinein.




In der Stadt gönne ich mir mal ein echtes Mittagsessen, im Harbour Light Restaurant. Direkt am Hafen, wie der Name schon sagt – auch wenn man dort nicht auf glitzernde Boote in Postkartenoptik blickt, sondern eher auf praktischen Fischer-Charme. Aber das Lokal selbst? Ein Volltreffer. Es gab geräucherten Lachs auf Spargel und Avocado, darunter knuspriges Brot, obendrauf ein pochiertes Ei – und dazu ein lokales Bier. Eine Freude ohne Ende. Und das Beste: gar nicht teuer. Überhaupt ist mir aufgefallen, dass die Gegend hier erstaunlich leistbar ist.
Am Hafen: Taucher. Sie kommen gerade mit einem Boot an, direkt beim Hafen, wo ich stehe.
Ich spreche sie einfach an und frage, was sie so gesehen haben. „Lobster, richtig große! Und irgendein Wal!“
Was genau, verstehe ich nicht – aber es klingt ziemlich beeindruckend. Sie laden mich ein: „Ye’ll just come along next time, aye?" Es gibt nämlich in Burghead – da, wo ich gestartet bin – eine Tauchschule. Und plötzlich ist sie da, diese Lust, es einfach zu machen. Vielleicht ein anderes Mal! Aber die Idee ist jetzt da. Und die Lust aufs Meer … noch ein Stück größer geworden.
Gelsen, Ginster und Gejammer
Schlendern an der Uferpromenade, vorbei an kleinen Eiskaffee-Buden, über eine Brücke – und man steht am Oststrand. Circa sieben Meilen feinster Sand, soweit das Auge reicht.
Am Anfang lässt es sich herrlich gehen – bei Ebbe direkt am Wasser. Aber dann kommt der Moment, in dem die Realität in Form eines gewaltigen Pebbles-Strandes zuschlägt. Der Weg unten ist nicht mehr begehbar, also bleibt nur eins: die Pebbles-Düne erklimmen. Und das ist – mit vollem Rucksack – so ziemlich die Definition von Hardcore.
Oben erwartet mich ein schmaler Pfad zwischen Düne und Kiefern. Und – Überraschung – ein Militärübungsgebiet. Nicht unbedingt romantisch, aber irgendwie … bizarr interessant. Neben dem Weg stehen Betonböller, die wohl eine Invasion verhindern sollen, und dazwischen Betonhäuschen, aus denen aus Schießscharten geschossen werden kann – oder konnte, oder sollte.
Ich marschiere also durch dieses militante Niemandsland. Der Wind ist plötzlich weg, dafür ist meine Müdigkeit da. Und die Sehne über dem Knöchel meldet sich auch wieder zu Wort. Der Weg besteht wahlweise aus versinkendem Sand oder rutschenden Steinen – beides grausam. Ich sehe das Meer nicht mehr. Die Pebbles-Düne ist so hoch, dass ich nur noch das dumpfe Rauschen höre. Dazu schwebt eine große schwarze Wolkenfront über mir – seit Lossiemouth. Der Wind weht sie stetig genau in meinem Marschtempo mit mir mit.
Ich will weiter, der dunklen Wolke entkommen, raus aus dem Militärambiente. Ein Wort kommt mir immer wieder in den Sinn: Mordor. Klar ist: Ich möchte nicht in Mordor mein Zelt aufschlagen. Der Schmerz über meiner äußeren Knöchelsehne wird bei jedem Schritt und jeder Berührung meines Wanderschuhs unerträglicher. Ich habe ihn schon aufgeschnürt, aber das hilft nicht wirklich.
So beschließe ich: Wenn andere barfuß wandern gehen können, kann ich es doch auch in Socken schaffen. 500 Meter geht das gut. Dann fällt mir ein – Moment mal, ich habe doch noch diese fancy Gore-Tex-Socken! Dicker, stabiler, fast schon Wellness für den Fuß. Und siehe da: Es geht wieder. Nicht gut, aber es geht. Und das reicht manchmal.





Rechts ein Schild: „Waldausweichroute Moray Trail“. Klingt romantisch. Raus aus dem Beton, rein ins verwunschene Grün, denke ich. In Wahrheit: Offroad-Parcours für Waldpanzer oder Trailrunner. Rauf, runter, lose Steine, Pebbles deluxe. Barfußakupunktur mit Flucharien. Es geht nicht anders – Schuhe wieder an, halb offen, ein Kompromiss zwischen Schmerz und Stabilität. Dann – oh Wunder – der Forstweg! Ja, jener ungeliebte, monotone Kiesautobahn-Freund aus alten Zeiten. Heute aber: mein Traumweg.
Kaum denke ich, das Schlimmste geschafft zu haben, erscheint der Endgegner: Gelsen. Hundertschaften. Wie in Zingst damals – stehenbleiben = suizidal. Also gebe ich Gas.
Sind Gelsen wie Geier? Können sie spüren, dass man verletzt ist und bald liegen bleibt?
Licht, Luft, Leben!
Der Wald lässt mich raus – und da ist er wieder, mein geliebter gelber Ginster. Nie war er schöner. Nie war ich dankbarer. Die Gelsen weg. Die Sonne wagt sich wieder hervor, und ich denke: Na gut. Noch eine Meile bis Kingston. Irgendwas geht immer. Ob ich mir ein Taxi dort gönne? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der junge Geist denkt: „Weiter, du schaffst das!“ Der Körper: „Schatz, ich war schon beim Aufstehen fertig.“ Aber hey – ich bin noch unterwegs. Und ich habe Gore-Tex-Socken. Was soll mir schon passieren?
Was mir in solchen Momenten fehlt? Ein vernünftiger Mensch an meiner Seite. Zum Beispiel mein über alles geliebter Ehemann, der in solchen Situationen seelenruhig sagen würde:
„Gönn dir doch einfach mal ein bisschen Urlaub. Setz dich an einen schönen Strand und trink ein Bier.“ Oh mein Gott – wie gern würde ich jetzt gerade einfach mal einen Ratschlag befolgen.
Also beschließe ich: Luxus. Ich rufe ein Taxi in Kingston, das mich nach Buckie bringen soll. In Buckie hebt eine Frau mit so schottischem Akzent ab, dass ich kurz denke: Okay, das wird spannend. Aber wir verstehen uns erstaunlich gut. Ich erkläre mein Leid, sie erklärt ihre knappe Zeit – und wir treffen uns in der Mitte: in Form eines Straßenrands.
Dort sitze ich dann, wie ein verwaistes Kind mit Zelt statt Ranzen, und warte. Auf Rettung mit Taxameter.
Die Taxifahrerin ist eine taffe Frau mit Herz und Humor. Eine, die vermutlich eher Angst einflößt, als dass sie sich selber fürchtet. Sie sagt, sie sei bekannt für ihre Strenge. Ich mag sie auf Anhieb.
Als ich sie frage, ob wir bei der Tankstelle stoppen können, um mir zwei Dosen Tennents gegen den seelischen Muskelkater zu holen, sagt sie nur: „Natürlich.“
Ich glaube, wir sind auf einer Wellenlänge.
Wehweh
Der Campingplatz liegt auf einem Hügel außerhalb von Buckie, geführt von einer Bauernfamilie. Ich habe vorsorglich angerufen – was sich als kluge Idee erweist. Denn die Großmutter ist es schließlich, die mich noch spät abends eincheckt. Ich stelle mein Zelt zwischen zwei Hütten auf, wo es zumindest ein bisschen windgeschützt ist. Die Dusche ist eine Herausforderung: ein Boiler, der nur „Arktis“ oder „Hölle“ kann. Ich dusche mit Shampoo im Haar zwischen Erfrierung und Verbrennung. Mein rechter Fuß macht inzwischen ernst. Die Sehne oberhalb des äußeren Knöchels ist geschwollen wie eine hübsche Kirsche. Schmerzmittel plus Bier helfen notdürftig. Mein Magen findet das alles nicht so witzig und antwortet mit Sodbrennen. Drei Rennie später wird es besser. Ich ziehe alles an, was ich habe, krieche in meinen Schlafsack – und schlafe dann tatsächlich durch.
Bis acht. Halleluja..
12. Mai - die letzten Meilen nach Cullen
Am nächsten Morgen: Sonne. Leben. Hoffnung.
Die Oma vom Campingplatz nimmt mich mit nach Buckie. Dort Frühstück mal anders: geräucherter Lachs. Pur, fett, herrlich.
Ich kaufe mir in der Apotheke eine Bandage für mein Fußdrama – sie bringt genau fünf Meter Erleichterung, dann ist sie offiziell kontraproduktiv. Es sind nur sieben Meilen bis Cullen. Das muss zu schaffen sein. Der Lachs und der Blick auf die Nordsee geben mir Kraft. Es geht’s los: raus aus Buckie, hinein in die wilderen Küstenabschnitte. Felsen, Grasabhänge, der Wind als ständiger Begleiter – frontal natürlich, eh klar. Aber die Szenerie ist einfach großartig. Auf den Felsen hocken Eiderenten – mein erstes Mal –, dazu Möwen in allen Varianten, in der Ferne Robben. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. In dem kleinen Ort – Findochty (sprich: „Finichti“ oder so) – begegne ich zwei Menschen, die gerade ihr Boot reparieren. Ein zauberhafter Hafen, winzig, fast wie aus einem Kinderbuch. Sofort ein Ort zum Einziehen.
Kurz darauf spaziere ich mit einer alten Dame samt Hund weiter. Sie stammt aus Findochty, lebt noch immer dort und erzählt mir mit leuchtenden Augen von der Schönheit dieses vergessenen Landstrichs. Ich verstehe sie nur zu gut.







Ein Ort weiter - Ich will nur einen Blick auf den Hafen werfen – da sitzen zwei Damen im Vorgarten. Zehn Minuten später sitze ich bei Tee, Karamellbomben und Geschichten auf der Terrasse.
Die 93-Jährige war Schneiderin für die Luxusmarke Crombie und erzählt von ihrer Zeit in Glasgow bei einer englischen Modemarke.
Die andere ist eine richtige „Mit-der-kann-man-Pferde-stehlen“-Frau, aus der Nähe von Glasgow.
Es wird getratscht, gelacht und viel zu viel Zucker gegessen – aber wer könnte da schon Nein sagen?
Bow Fiddle Rock
Weiter geht’s zur berühmten Felsenformation Bow Fiddle Rock. Dort denkt man wirklich, er stürzt jeden Moment ein. Ich sitze am Strand und betrachte dieses Wunder aus Stein und Möwen.
Dahinter öffnet sich der weite Strand von Cullen – goldener Sand, Ebbe, Sonne, Wind und das Rauschen des Meeres.
Menschen spazieren mit ihren Hunden, ein paar Mutige wagen sich ins Wasser. Es ist ruhig – und doch irgendwie belebt. Eine ganz eigene Stimmung liegt über diesem Ort.
Der Tag klingt vielversprechend aus:
Im Seafield Arms Hotel gönne ich mir eine heiße Schüssel Cullen Skink, diese berühmte Fischsuppe, von der alle gesprochen haben, und ein wohlverdientes Bier, während ich entspannt auf den 20:37-Uhr-Bus nach Aberdeen warte. Hotelzimmer in Aberdeen: schon gebucht!
Wenig später stehe gut gelaunt an der Haltestelle, telefoniere noch mit Felix, als der Bus einrollt. Ich steige ein, sage „Aberdeen“. Der Fahrer schaut mich mitleidig an:
„No Aberdeen tonight. I’m going to Macduff.“
Macduff? 40 Meilen vor Aberdeen? Ich denke: Na super. Und jetzt? Ich muss schnell entscheiden – und in einem Anflug von Zweckoptimismus steige ich trotzdem ein. Beginne hektisch, Taxipreise zu googeln (Spoiler: dreistellig). Und dann – die Krönung des Abends: Ich merke, dass ich meinen zweiten Beutel an der Haltestelle vergessen habe. Darin: meine Kamera, meine Jacken – quasi mein halbes Leben.
Ich stürme nach vorn zum Busfahrer: „Ich muss raus – mein Zeug liegt da noch!“
Der Fahrer nickt nur trocken, denkt sich seinen Teil und lässt mich an der nächsten Haltestelle raus.
Der nächste Bus zurück? In 45 Minuten. Es ist mittlerweile fast 21 Uhr. Ich stehe am Straßenrand, der Wind pfeift, mein Puls rast.
Dann der rettende Gedanke: Ich rufe im Hotel an und frage, ob vielleicht irgendjemand so freundlich sein könnte, zur Haltestelle zu gehen.
Und – was soll ich sagen – sie sind es. Sie finden meinen Beutel, bewahren ihn auf. Ich falle innerlich auf die Knie. Aber: Ich stehe wieder mal auf einer Landstraße. Kein Bus, keine Aussicht.
Da hält ein Auto – ein Mann, oder ein Engel –, der mich kurzerhand mitnimmt und einen Umweg fährt, nur um mich nach Cullen zurückzubringen.
Im Grand Arms Hotel, mit einem Bier im Bauch und einer Geschichte mehr im Gepäck, endet der Tag und meine Wanderung entlang der Küste.
13. Mai – Aberdeen, Schottland
Heute heißt es früh raus. Es gibt nämlich genau einen Bus am Morgen, der mich aus dem Nirgendwo nach Aberdeen bringt – und den will ich auf keinen Fall verpassen. Also stehe ich um 8:17 Uhr an der Haltestelle. im Bus ist es … sagen wir mal: arktisch. Fenster offen, 8:20 in Schottland.
Ich ziehe alles an, was mein Rucksack hergibt – sogar meine Isomatte wird zur Decke umfunktioniert. Bewegungsradius: null. Fenster schließen? Undenkbar. Ich höre: “I´m Fucking Freezing”von EJ Smith.
Aber nach einer Stunde erbarmt sich jemand. Fenster zu. Sonne rein. Ich taue langsam wieder auf.
Nach zweieinhalb Stunden - Ankunft in Aberdeen, Union Square.
Bahnhof, Busstation und eine solide Sammlung an zwielichtigen Portälen – mein Hotel mittendrin. Von außen eher postapokalyptischer Chic, innen … naja, sagen wir: funktional.
Rezeption? Fehlanzeige.
Ich telefoniere mich erfolglos durch, bis ich schließlich einen freundlichen Reinigungstypen aufgabele, der mir nach kurzer Erklärung einfach den Schlüssel in die Hand drückt.
Unkonventionell, aber hey – das Zimmer ist sauber, ich bin drin, passt. Nach dem Gepäck-Dumping geht’s los auf Stadterkundung.
Und da sitze ich dann, in der Sonne, mit Scottish Breakfast im Old School Pub (ehemals wirklich eine Schule), mit Blick auf das glitzernde Granitgrau von Aberdeen. - Silver City!
Bevor ich mich auf den Weg nach Alt-Aberdeen mache, besuche ich die William-Wallace-Statue nahe den Union Terrace Gardens. Dort komme ich mit zwei Schotten mittleren Alters ins Gespräch. Sie äußern den Wunsch nach einem Mann wie Wallace für die heutige Zeit und sprechen sich für die Unabhängigkeit Schottlands von England aus – ein Moment, der wirkt wie aus einem Klischee-Handbuch.
In Alt-Aberdeen angekommen, beeindruckt mich die St Machar’s Cathedral – eine Kirche, deren Ursprünge bis ins Jahr 580 zurückreichen.
Ein weiteres Highlight ist die Brig o’ Balgownie, eine mittelalterliche Steinbrücke über den River Don. Sie gilt als eine der ältesten erhaltenen Steinbrücken Schottlands. Sonst gibt es nicht wirklich viel. Nach dem Besuch dieser historischen Stätten überkommt mich eine bleierne Müdigkeit. Ich kehre ins Hotel zurück, nehme ein heißes Bad, genieße meine letzte China-Nudelsuppe – und lege mich ins Bett.
14. Mai bis 15.Mai– Glasgow
Heute steht die Weiterreise mit dem FlixBus nach Glasgow an. Die Sonne scheint, und die 3,5-stündige Fahrt bietet Gelegenheit, die Eindrücke der letzten Tage Revue passieren zu lassen.
Der letzte Tag.
Ein bisschen wie ein Déjà-vu: wieder ein Hotelzimmer, wieder Glasgow. Es ist zwar nicht derselbe Raum wie zu Beginn – aber er sieht ihm verdächtig ähnlich.
Die beige Vorhang-Teppich-Kombination. Das leicht brummende Geräusch des Wassers in den Leitungen. Und ich, inmitten dieses Raums, als würde ich mich selbst in einer Szene wiedererkennen.
Nur: Ich bin nicht mehr ganz dieselbe.
Gestern passiert nicht mehr viel – ein wenig Herumstreunen, ein Hemd aus einem Vintage-Shop, früh schlafen.
Mein Körper protestiert immer noch leise, nach all den Tagen zwischen Wellen, Wind und Wanderwegen.
Dave
Heute früh dann ein letztes Frühstück im Pub ums Eck – mit typischem Ausgang.
Ich bin nur kurz aufgestanden, um Salz und Pfeffer zu holen – und zack: Möwen-Überfall.
Mein Teller ist futsch – aber dafür gibt’s Dave. Ein waschechter Glasgower, der mich auf die schlaue Möwe hinweist, sich mit mir in die Sonne setzt und mit dem ich dann Bier trinke und über das Leben rede.
Über Geld, das man nicht mitnehmen kann. Und über Dinge, die man besser spürt als besitzt.
So geht sie zu Ende, diese Reise. Und sie hinterlässt Spuren.
Ich denke zurück an meinen Satz vom Anfang, bevor ich zum Affric-Kintail-Weg aufbreche:
„Im Spiegel sehe ich eine müde, nicht mehr ganz junge Frau und frage mich: Wie sollst du so durch die Highlands kommen?“
Nun – ich sehe sie noch immer. Diese Frau. Aber jetzt sehe ich auch, dass sie es geschafft hat.
Trotz allem:
Erkältung, Darmschmerzen, abgebrochener Wanderstock, kaputtem Knie, Ischias, Sehne und verlorene Orientierung –
und trotzdem weiter. Immer weiter.
Nicht immer leicht.
Nicht immer schön.
Aber echt.
Moray Coast Trail
Länge: ca. 80 Kilometer
Start: Forres oder Burghead
Ziel: Cullen
Region: Nordost-Schottland, entlang der Moray Firth-Küste
Kamera: Fuji XT5 plus Fujinon 18mm; iPhone 15pro